Selbstorganisation wird in Stellenausschreibungen und Vorstellungsgesprächen gern propagiert, in der Realität allerdings selten zugelassen. Besonders, wenn es ans Eingemachte geht, erwünschte Timelines eng werden oder das Gefühl von Kontrollverlust entsteht, werden die Uhren oft zurückgedreht.

Besonders in agilen Arbeitsformen wie Scrum ist Selbstorganisation jedoch zentral: Ein Scrum Team bestimmt selbst, wer an welchen Aufgaben, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form arbeitet. Niemand regiert hierbei von außen herein. Teams planen ihre Arbeit eigenverantwortlich – innerhalb eines Rahmens gemeinsamer Ziele und Regeln.

Diese Arbeitsweise ermöglicht schnelle Entscheidungen genau dort, wo sie gebraucht werden – am Schmerzpunkt. Außerdem entscheiden diejenigen, die das Problem verstehen und die nötige Expertise mitbringen.

Diese Arbeitsweise ermöglicht schnelle Entscheidungen genau dort, wo sie gebraucht werden,  am Schmerzpunkt. Außerdem entscheiden diejenigen, die das Problem verstehen und die nötige Expertise mitbringen.

Doch: Wie sieht das eigentlich in anderen Bereichen aus? Wie gehen etwa Sportteams mit der Notwendigkeit zur Selbstorganisation um? Und was können wir daraus lernen?

„Wenn das Spiel läuft, kann ich nicht eingreifen – dann müssen die Spieler das regeln.“

– Julian Nagelsmann

Selbstorganisation im Sport: Wenn für zentralisierte Entscheidungen keine Zeit bleibt

Der Sport bietet eindrückliche Beispiele für Selbstorganisation unter Druck. Wenn das Spiel läuft, bleibt TrainerInnen nur die Seitenlinie. Coaching ist dann nur noch in sehr eingeschränktem Maße möglich – Auswechslungen, kurze Anweisungen, Gesten, in manchen Sportarten Auszeiten. Die Entscheidungslast liegt zum Großteil bei den SpielerInnen auf dem Feld. Sie müssen sich auf neue Begebenheiten einstellen, taktische Umstellungen in Sekunden entscheiden und neue Lösungen entwickeln.

Und das Erstaunliche: Es funktioniert, oft sogar beeindruckend gut. Sportteams sind häufig in der Lage, auf unerwartete Wendungen des Spiels, andere Formationen der Gegner oder Veränderungen in der eigenen Mannschaft einzugehen und sich erfolgreich daran anzupassen.

Was für uns Zuschauer wie „blindes Verstehen“ zwischen den SpielerInnen wirkt, ist häufig das Ergebnis harter Trainingsarbeit und eines klaren gemeinsamen Rahmens. Sportmannschaften wissen, dass es im Spiel auf ihre Fähigkeit ankommt, unter Druck schnell und erfolgreich zu agieren. Daher üben sie im Vorfeld Spielzüge, taktische Formationen und teilweise unterschiedliche Lösungen für gegnerspezifische Herausforderungen. Sie erleichtern es sich dadurch, in Sekundenbruchteilen aus verschiedenen Handlungsoptionen zu wählen und gemeinsam erfolgreich zu bleiben. Dabei hilft wiederum das gemeinsame Streben nach Erfolg und die Einfachheit des Zieles im Sport (zumindest im Spitzenbereich) – nämlich dem Sieg im Wettkampf.

Beispiel: Im Handball entscheiden Mannschaften laufend selbst über ihre Spielzüge – ohne dass der Trainer eingreift. Die Entscheidung fällt im Spiel, meist unter Zeitdruck und unter Einbezug der Perspektiven der beteiligten SpielerInnen. Ohne Selbstorganisation könnte keine Handballmannschaft dem Tempo des Spiels folgen und erfolgreich sein. 

Selbstorganisation in Unternehmen – unter Druck oft stark

Auch im Unternehmenskontext zeigen Teams unter Druck häufig Selbstorganisationsstärke. In kritischen Situationen, z.B. wenn zentrale Funktionalitäten nicht funktionieren, erleben wir, wie ganze Teams ihre Köpfe zusammenstecken und ad hoc eine Strategie vereinbaren, wie sie das Problem angehen und lösen. Hier arbeiten Expertinnen eng zusammen, tauschen sich schnell aus und treffen Entscheidungen am Kern des Problems. Dabei wird keine Weisung einer Führungskraft oder eine klassische Zuordnung von Aufgaben benötigt, die Teams entscheiden selbst, wie sie das Problem am schnellsten und besten in den Griff bekommen.

Beispiel: In einem Energieversorger führt ein Systemausfall zu einer Störung im Netz. Innerhalb einer Stunde hat sich ein interdisziplinäres Team selbst formiert – TechnikerInnen, IT, Kommunikation. Ohne zentrale Steuerung entstehen Lösungswege, weil alle Beteiligten auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten: die Versorgungssicherheit wiederherzustellen.

Solche Situationen zeigen: Wenn das Ziel klar ist, die Beteiligten ihr Können einbringen dürfen und vertrauensvoll kooperieren, kann Selbstorganisation enorme Wirkung entfalten.

Warum Selbstorganisation im Alltag oft verpufft

Im Gegensatz zu Ausnahmesituationen sieht der Alltag in vielen Teams anders aus, auch bei Scrum Teams. Dort wird zwar formal gemeinsam geplant und priorisiert, das Ergebnis ist aber allzu häufig, dass jeder „seins“ macht, statt gemeinsam in Richtung eines wichtigen Teamziels zu agieren. Der Experte für eine Anwendung behandelt dort ein kleineres Problem, statt bei der wichtigen Weiterentwicklung einer anderen Funktionalität zu unterstützen. Der Operations-Spezialist macht „irgendwas an der Infrastruktur“, der Frontend-Experte wartet auf Aufgaben. Das ist in etwa so, als würde in einem Fußballteam jeder Spieler nur exakt die Aufgabe seiner Position erledigen. Es wird irgendwie nach Fußball aussehen, aber richtig gut wird es nicht.

Solche „Expertenteams“ können sehr effizient sein – aber sie sind nicht flexibel. Wenn sich die Umwelt ändert oder neue Anforderungen auftauchen, fehlt das kollektive Reaktionsvermögen. Genau hier würde echte Selbstorganisation helfen – vorausgesetzt, sie wird im Alltag kultiviert, nicht nur in der Krise.

Learnings – Was wir aus dem Sport und Drucksituationen mitnehmen können

Die Beispiele aus dem Sport und aus kritischen Situationen im Unternehmensalltag zeigen klar:

Selbstorganisation funktioniert – vor allem unter Druck.
Wenn zentralisierte Steuerung nicht möglich ist, zeigt sich das wahre Potenzial selbstorganisierter Teams. Sie reagieren schnell, situationsgerecht und effektiv – vorausgesetzt, sie haben den Raum und die Erfahrung dazu.

Zielklarheit ist der Schlüssel.
Im Spitzensport ist das Ziel eindeutig: gewinnen. Diese Klarheit vereinfacht Entscheidungen, schafft Orientierung und motiviert. In der Wirtschaft sehen wir ähnliche Effekte in Ausnahmefällen – z. B. bei Incidents. Im Alltag hingegen fehlt oft die gleiche Eindeutigkeit. Dadurch geht kollektive Ausrichtung verloren – und mit ihr das Fundament für gute Selbstorganisation.

Erfolgreiche Selbstorganisation ist trainiert.
Was auf dem Spielfeld wie instinktives Handeln aussieht, ist Ergebnis systematischer Vorbereitung: Spielzüge, Reaktionsmuster, Teamverständnis. Auch in Unternehmen braucht Selbstorganisation Übung – durch gemeinsame Planung, Reflexion und wiederholte Zusammenarbeit im Alltag, nicht nur im Ausnahmezustand.

Take-Aways für Führungskräfte

Führungskräfte nehmen mit der ihrer Gestaltung des Team-Alltags großen Einfluss darauf, inwieweit Selbstorganisation zur Entfaltung kommen kann. Aus den obigen Beispielen können wir einiges lernen, das Selbstorganisation unter Druck und im Alltag erleichtert:

Gestalte Räume für Selbstorganisation – im Alltag, nicht nur in der Krise.
Teams müssen die Chance bekommen, Verantwortung zu übernehmen – nicht erst, wenn es brennt.

Schaffe Klarheit über Ziele.
Nur wenn das Wofür verständlich, relevant und präsent ist, kann ein Team sich darauf ausrichten.

Trainiere Selbstorganisation bewusst.
Gute Selbststeuerung entsteht durch Wiederholung, Reflexion und Vertrauen – nicht durch Appelle oder Methodenwissen allein.

Ermögliche gemeinsames Denken.
Binde dein Team früh in Entscheidungen ein – nicht nur bei der Umsetzung, sondern auch in der Ziel- und Lösungsfindung. Das stärkt Identifikation, fördert Kreativität und erhöht die Anpassungsfähigkeit.

Vertraue auf die kollektive Intelligenz.
Die besten Lösungen entstehen dort, wo die Probleme auftreten – und durch die Menschen, die sie verstehen.

Besonders die unteren beiden Punkte weisen bereits darauf hin, dass eine frühzeitige und starke Einbindung eines Teams häufig sehr hilfreich ist und viel mit Selbstorganisation zu tun hat. Wie Selbstorganisation und Partizipation zusammenhängen und was das für uns heißt, thematisieren wir im nächsten Beitrag – wieder unter Rückgriff auf Sportbeispiele natürlich.