Viele Unternehmen haben neben „Scrum Mastern“ oder „Agile Mastern“ auch Rollen wie „Agile Coach“ oder „Release Train Engineer (RTE)“ etabliert. Nicht nur in diesen Unternehmen kommt regelmäßig die Frage auf, wie Karrierepfade für diese Rollen aussehen sollten.

Klassische Karrieresicht

Die klassische Vorstellung von „Karriere“ ist hierarchisch getrieben. Das heißt, es gibt Jobs „unten“ und „oben“, jeweils hinterlegt mit Titeln und meist auch höheren Vergütungen. Diese klassische Sicht auf Karrierepfade ist insbesondere bei großen Unternehmen weit verbreitet und spiegelt sich auch in unserer täglichen Erfahrung als Berater wider: Einen „Agile Coach“ können wir teurer bei Kunden platzieren als einen „Scrum Master“.

Gerade in Konzernen ergibt sich aus dieser Grundhaltung dann der Fachkarrierepfade vom Scrum Master über Release Train Engineer und Agile Coach bis hin zum Enterprise Agile Coach. Die entsprechenden Positionen sind limitiert und nicht ausschließlich über die individuelle Qualifikation zu erreichen, denn auch bei drei perfekt qualifizierten Kandidaten gibt es die entsprechende Stelle vielleicht nur einmal.

Probleme durch die klassische Karrieresicht

Durch diese Sicht auf Karrierepfade für Scrum Master und Release Train Engineers entstehen eine Reihe von Problemen. Das unsichtbarste und gleichzeitig schwerwiegendste ist, dass eine hierarchische Kultur gefördert wird. Während auf Teamebene Selbstorganisation und Augenhöhe gepredigt werden, bilden die agilen Rollen ein (zumindest auf dem Papier) hierarchisches System. Dadurch wird eine agile Transformation schnell unglaubwürdig. Das gilt auch, wenn die „höheren“ Stellen keine disziplinarische Macht über die „unteren“ haben, denn allein durch die Begrenzung der Positionen/Titel und die unterschiedlichen Gesprächspartner ist es egal, was gepredigt wird: de facto wird nicht mehr auf Augenhöhe interagiert. Warum sollte ein hierarchisch denkender Enterprise Agile Coach noch mit einem Scrum Master sprechen, wenn er mit der Geschäftsführung über deren Sorgen und Nöte spricht?

Durch die Verknüpfung von Titeln mit Positionen sind diese begrenzt. Die Begrenzung sorgt wiederum für einen gewissen Wettbewerb zwischen den agilen Rollen. Denn nur, wer aus der Masse hervorsticht, wird befördert. Das führt häufig dazu, dass Scrum Master und Release Train Engineers politisch agieren, Informationen für sich behalten und mehr auf ihre Sichtbarkeit achten als auf die Verbesserung des Systems.

Das wiederum führt dazu, dass sich Menschen für diese Unternehmen und Positionen interessieren, die möglicherweise nicht optimal dafür geeignet sind. Kurz gesagt werden Menschen mit Motivatoren wie „Status“ und „Ordnung“ (vgl. Moving Motivators von Management 3.0) angezogen, während Personen mit Motivatoren wie „Gemeinschaft“ (relatedness) und „Mastery“ abgestoßen werden. Menschen, denen Gemeinschaft wichtig ist, meiden normalerweise ein politisches Umfeld. Personen, mit einem starken Antrieb durch „Mastery“ wiederum sehen nicht ein, warum sie neben der fachlichen Qualifikation für die Rolle noch weitere Faktoren erfüllen müssen, um einen neuen Titel zu erhalten und lehnen daher die Verknüpfung eines Titels mit einer Stelle ab.

Das führt auch dazu, dass die Mitarbeiterbindung schlechter ist, als sie sein müsste. Denn gute Scrum Master und Release Train Engineers finden leicht einen neuen Arbeitgeber und sind nicht notwendigerweise emotional eng mit dem Unternehmen verbunden. Das gilt insbesondere, wenn es sich um Menschen handelt, denen „Status“ wichtig ist. Da fällt der Wechsel leicht, wenn der nächste Karriereschritt nicht erreichbar erscheint. Gleiches gilt für Menschen mit Motivatoren wie Gemeinschaft und „Mastery“. Schnell entsteht dort nämlich der Eindruck, dass man nicht wertgeschätzt wird, weil die Belohnungssysteme anders ausgerichtet sind und man beispielsweise mehrere Jahre warten muss, bis die Stelle für den nächsten Karriereschritt frei wird.

Aber auch abseits von den kulturellen und persönlichen Faktoren gibt es gute Gründe, hierarchische Karrierepfade für Scrum Master und Release Train Engineers abzulehnen. Deutlich spürbar ist in solchen Systemen der Kommunikationsoverhead. Dieser entsteht, weil die „höheren“ Stellen vom Geschehen in den Teams abgekoppelt sind (üblicherweise hat schon ein Release Train Engineer kein eigenes Team mehr). Um also zu wissen, welche Probleme angegangen werden sollen und wie die Lösungen aussehen müssen, ist die Kommunikation mit den „niedrigeren“ Rollen unabdingbar. Das bedeutet also mehr E-Mails, mehr Termine und mehr Konflikte. Nicht selten verbringen RTEs und Agile Coaches mehr Zeit in Terminen zum Informationsaustausch als mit der Lösung von Problemen.

Was sagt Scrum dazu?

Im Scrum Guide ist der Scrum Master als eine Rolle beschrieben, die auf allen Ebenen wirkt. Also nicht nur auf Teamebene, sondern auch zwischen mehreren Teams und in die größere Organisation hinein. Wer also „reines Scrum“ macht, hat keinen Bedarf an Rollen wie „Release Train Engineer“ oder „Agile Coach“, denn deren Aufgaben werden von den Scrum Mastern mit erledigt. Das zeigt auch die Pyramide der Impediments gut.

Pyramide der Impediments

Agile Sicht auf Karrierepfade

Unabhängig vom Scrum Guide haben Menschen trotzdem den Drang, sich zu entwickeln und „Karriere“ zu machen. Allerdings unterscheidet sich das Verständnis des Karrierebegriffs in der agilen Welt diametral von dem der klassischen Welt. Gemeinsam haben beide Sichten, dass Mitarbeiter mehr Geld verdienen wollen. In der agilen Welt ist das aber unabhängig von der Position zu sehen. Während also klassische Konzerne die „Stelle“ bezahlen und dann eine „Ressource“ darauf besetzen, bezahlen agile Unternehmen die „Person“ und sorgen dafür, dass diese ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen kann. Es ist in agilen Unternehmen völlig normal, dass es einerseits keine oder sich häufig ändernde Stellenbeschreibungen gibt und die Mitarbeiter andererseits in relativ kurzen Abständen zwischen Rollen wechseln. Entsprechend werden Karrierepfade komplett anders definiert, nämlich basierend auf Wissen, Fähigkeiten und Erfolgen. Vielleicht gibt es sogar Titel wie „Senior Scrum Master“. Diese werden aber nicht durch das Besetzen einer Stelle vergeben, sondern durch das Erfüllen aller dafür notwendigen fachlichen Kriterien. Entsprechend sind diese Titel auch nicht durch die verfügbaren Stellen begrenzt. „Karriere“ heißt, seinen möglichen Handlungsraum und Einsatzwert zu steigern. Als Scrum Master beginnt man also damit, ein einzelnes Team zum Erfolg zu führen und eignet sich irgendwann die Fähigkeit an, zusätzlich dazu auch die Koordination mehrerer Teams zu optimieren oder mit der Geschäftsführung zu verhandeln. Mit steigenden Fähigkeiten erhält die Person mehr Entscheidungsspielraum und darf sich ihre Projekte aussuchen oder wird bewusst von Kollegen angefordert. Um die eigenen Fähigkeiten aktuell zu halten und relevant für die auszufüllende Rolle zu bleiben, müssen alle Rolleninhaber, gleich welcher Fähigkeitsstufe, ständig dazulernen und ihr Wissen erweitern.

Durch ein solches Modell wird eine eher egalitäre und auf Fähigkeiten basierte Kultur gefördert, die Mitarbeiter stehen primär mit sich selbst im Wettbewerb, weil es keinen Sinn ergibt, die Kollegen im Kampf, um eine Stelle auszustechen und es wird ein breiteres Spektrum von individuellen Motivatoren gefördert. Das wiederum steigert die Mitarbeiterbindung. Gleichzeitig sinkt der kommunikative Overhead, weil das Wahrnehmen von übergeordneten Aufgaben immer zusätzlich zur Arbeit im eigenen Team erfolgt und so die „Bodenhaftung“ stets gegeben ist. Es gibt keine zusätzlichen Abstimmungstermine, denn die Scrum Master müssen sowieso miteinander sprechen und sind jederzeit vollständig informiert.

Fazit

Der Aufbau eines hierarchischen Karrierepfads für Scrum Master und Release Train Engineers bringt eine Reihe von Nachteilen und Problemen mit sich, insbesondere:

  • Förderung einer hierarchischen Kultur
  • Förderung von Wettbewerb zwischen den agilen Rolleninhabern
  • Anziehen von Menschen mit hohem Wunsch nach Status / Ordnung und abstoßen von Menschen mit den Motivatoren Gemeinschaft / Mastery
  • Verringerung der Mitarbeiterbindung
  • Kommunikationsoverhead durch erhöhten Abstimmungsbedarf
  • Abkopplung der „höheren“ Rollen vom Geschehen in den Teams

Diese Probleme können durch ein agiles Verständnis von Karrierepfaden adressiert werden. Karriere bedeutet dann die Erweiterung des Handlungsraums und die Steigerung des persönlichen Einsatzwertes, was wiederum zu mehr Freiheiten im Unternehmen führt. Der Kern agiler Karrierepfade liegt im Schwenk vom Bezahlen einer „Stelle“ und deren Besetzen mit einer „Ressource“ hin zum Bezahlen der „Person“ mit ihren Fähigkeiten und dem Ermöglichen des vollen Einsatzes dieser.

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